Wie heißt es heute so schön: Das WWW vergisst nichts. Stimmt wohl. Aber wie sieht es mit unserem Gehirn aus? Wir werden immer älter, häufen immer mehr Erinnerungen, Wissen und Erfahrungen an. Unser Gehirn ist zwar eine Art Supercomputer, aber genau wie unser Körper einem Alterungsprozess unterworfen. Der läuft weder linear noch bei allen Menschen gleich ab. Ich umgebe mich deswegen mit ein paar zusätzlichen „Speichermedien für das alternde Hirn“ in meiner unmittelbaren Umgebung: Zuhause. Das entspricht sicher keinem Modetrend, ist aber durchaus angenehm und hilfreich. So hat man z.B. festgestellt, dass demenzkranke Menschen oft fröhlicher werden, wenn man mit ihnen Lieder singt, die sie aus der Kindheit / Jugend kennen.
Kleine Impulse an mein Hirn, sich zu erinnern, erreiche ich mit Dingen, die ich unmittelbar mit Menschen, Situationen, Reisen und Erlebnissen in meinem Leben verbinde. Natürlich können auch Fotos Erinnerungen wieder lebendig werden lassen, aber dafür muss man normalerweise ein Fotoalbum oder -buch zur Hand nehmen, einen Diaprojektor aufbauen oder im Computer die entsprechenden Fotos FINDEN und anschauen. Mit Gegenständen, Dekorationen oder Möbelstücken ist das unmittelbarer. Was für einen außenstehenden Betrachter nur „Einrichtung“ ist, ist für den Menschen, der darin lebt, oft ein regelrechter „Datenspeicher der Erinnerungen“
Individuelle Datenback-ups für das alternde Gehirn
Deswegen finde ich auch den Trend, sich alle paar Jahre beliebig mit irgendwelchen Trendmöbelstücken und entsprechender Dekoration – die meist umweltschädlich und billig aus China kommt – neu einzurichten nicht gut. Menschen, die immer älter werden, können ihrem Gehirn doch die Erinnerung viel leichter machen, wenn sie sich mit „Daten-Back-ups“ umgeben.
Ich habe mich z.B. seit dem Studium nie komplett neu eingerichtet! Ich habe angefangen mit den berühmten geschenkten Möbeln für die erste Studentenbude und dann jeweils durch Umzüge und/oder Trennungen einzelne Teile ersetzt und ergänzt. Dekorationen sind oft Geschenke oder Mitbringsel von unterwegs.
So waren meine Wohnungen sicher nie sonderlich stylish, wie es mir in Wohnzeitschriften und später im Netz vorgelebt wird, aber sie spiegeln MEIN gelebtes Leben wider. Modetrends habe ich schon immer für eine schlaue Erfindung des Marketings gehalten, um mehr Geld in die Kassen von Unternehmen zu spülen. Meine Einstellung und meine Erinnerungen leben aber in diesen „gesammelten“ Gegenständen, nicht in ständig neu erworbenen zu denen ich keinerlei „Beziehung“ habe. Ich bin mit solchen Dingen gar nicht verlinkt!
Wohntrends: Resourcenverschwendung und Marketing
Einige meiner „Datenspeicher“ möchte ich euch exemplarisch zeigen. Natürlich könnte die Liste sehr viel länger sein, aber ich möchte Euch nicht langweilen ;-).
Die Buchstützen mit dem Steinbock : standen seit ich denken kann in dem kleinen Zimmer bei meinen Großeltern. Schaue ich sie an, denke ich an meinen Großvater, wie er mit mir als kleines Mädchen über den Hamburger Dom gegangen ist. Ich habe wieder den Duft von gebrannten Mandeln in der Nase und wie ich es geliebt habe, wenn Opa eine Runde mit dem Ketten-Karussell spendierte.
Das Küchenbuffet: In unserer 2. Studententenbude Anfang der 80er Jahre hatte unser Vermieter dieses wunderschöne Teil in seiner Werkstatt stehen und wollte es demnächst verbrennen! Wir haben es gerettet. Seitdem hat es von Kiel, über Schleswig und Schmalfeld bis Quedlinburg weitergelebt. Dort erhielt es eine neue Lasur und die Marmorplatte. Dann hat es mich weiter nach Wiesbaden und Dietzenbach begleitet, um jetzt wieder hier in Norddeutschland zu landen. All meine Umzüge und Wohnungen, sowie Erinnerungen an Partnerschaften sind irgendwie auch mit diesem Möbelstück verknüpft.
Die Muscheln aus aller Welt: diese kleinen heimlich geschmuggelten Kunstwerke versetzen mich zurück auf die Tauchsafaries im roten Meer: vor Steilwänden im Wasser zu schweben, dem Napoleons Fisch in die Augen zu schauen oder die Mantas vorbei schweben zu sehen. Diese kleinen Schönheiten lassen mich an Malediven, Hawaii und Dänemark denken… all die unvergesslichen Momente in weit über 300 Tauchgängen zwischen 1992 und 2003, die ich rund um die Welt erlebt habe! Sie sind so wertvoll für mich!
Zulu Perlenstickerei: auf meiner unvergesslichen und einzigen Afrikareise 2006 habe ich diesen antiken Fries erworben. Mich faszinierte die Tatsache, dass dieses Fries aus Perlen und Muscheln in nur 4 Farben ein ganzer Liebesbrief ist. Schaue ich heute dieses Mitbringsel an, läuft ein ganzer Film von Bildern aus Afrika vor meinem inneren Auge ab: die unvergleichlich schöne Natur, die Tiere in freier Wildbahn erleben zu können. All das birgt dieser Fries für mich und steckt so voller Erinnerungen.
Chilenischer Wollteppich: diesen kleinen Wandbehang habe ich von meiner „Traum-Reise“ 2011 nach Patagonien mitgebracht. Wo ich mir am 4. Tag den Fuß so arg verstaucht habe, dass ich sämtliche Ibuprofenvorräte aller Mitreisenden verbraucht habe, um einigermaßen den Rest der 3 wöchigen Reise laufen zu können. Aber die unglaublich schönen Bilder die ich auf dieser Reise sehen durfte haben jede Minute dieser Schmerzen gelohnt und machen vielleicht sogar diese Erinnerungen noch einprägsamer.
Ich könnte die Liste mit vielen Gegenständen und Möbelstücken fortführen, gibt es doch zu fast jedem eine große oder kleine „Erinnerungsgeschichte“. Mit alldem möchte ich nur verdeutlichen, dass für mich Wohnen so viel mehr beinhaltet als ein stylisches oder gemütliches Zuhause. Möbel und Dekoration beliebig im Depot oder im Möbelhaus zu kaufen und sich damit einzurichten ist eines – mit dem was einen umgibt Erinnerungen zu pflegen etwas ganz anderes. Für mich ist es auch „Erinnerungsmanagement“ über ein erfülltes Leben von bisher mehr als 6 Jahrzehnten…
Ich bin sicher, vielen von euch geht es ebenso.
Aber bitte nicht missverstehen: ich lebe absolut im Hier & Jetzt und nicht in der Vergangenheit! Aber sich an sein bisher gelebtes Leben zurück zu erinnern ist ebenfalls eine Lebens-Qualität die ich nicht missen möchte.
2 Comments
Es ist wundervoll geschrieben und bringt es auf den Punkt. Nicht die Festplatten mit digitalem über die Jahre angesammelten und immer undurchsichtigerem Datenmüll werden uns im Alter die wunderbaren Erinnerungen zurückgeben. Ein Blick in analoge Fotoalben, die alte Schallplatte oder das blaue Sofa, werden die Erinnerungen in uns wachhalten.
Danke für diesen Kommentar, Micha. Außerdem haben diese Dinge alle ja noch den Aspekt, dass sie nicht nur über den Sinn „Auge“ visuell funktionieren, sonder auch haptisch sind oder wie die erwähnte Schallplatte auch akustisch und somit mehr als nur den einen Sinn anregen. Wie Erinnerung über einzelne Sinne funktioniert ist eh noch nicht erforscht…