Eine kritische Selbstanalyse
Wenn man auf gut 6 Jahrzehnte Leben zurückblicken kann, darf man auch mal ein wenig selbstkritische Analyse betreiben. Oft wird einem erst in der Rückschau klar, was eigentlich bestimmte Entscheidungen für Folgen hatten.
Geboren 1959 bin ich bei damals alten Eltern (Mutter 1923, Vater 1910) aufgewachsen und hatte keine Geschwister. Auch meine Eltern waren beide Einzelkinder. So wuchs ich ohne große Verwandtschaft auf. Mein Vater betonte immer wieder, wie wichtig es sei, eine gute Ausbildung zu machen, viel zu lernen und damit die Möglichkeit zu haben, unabhängig zu sein. Auch als er starb, ich war 15, blieb das mein Leitsatz.
Ich lernte gern und besonders mochte ich die Naturwissenschaften, Kunst und Sport in der Schule. So war es auch für mich schnell klar, dass ich nach dem Abitur studieren wollte. Meine Mutter hätte es gern gesehen, wenn ich bei ihrem lebenslangen Arbeitgeber, der Deutschen Shell AG eine Ausbildung nach dem dualen Modell gemacht hätte. Das wollte ich allein aus dem Grund nicht, weil diese Ausbildung in Hamburg gewesen wäre und ich weiter bei meiner Mutter hätte wohnen müssen. Deswegen kam mir der Studienplatz in Kiel gerade recht: eigenes Zimmer in Kiel und Unabhängigkeit!
Die Studienzeit lehrte mich, was es heißt, frei entscheiden zu können: mit welchen Menschen ich Kontakt wollte, was ich lernte, wie ich mich darüber hinaus für etwas engagieren wollte. Neben dem Studium hatte ich immer gute Jobs, die mir auch finanziell einige Freiheiten erlaubten. Ich war frei, unabhängig und niemand konnte mir in irgendetwas in mein Leben hineinreden! Das war FREIHEIT. Wunderbar.
Ich hatte einen festen Freund, den ich nach 18 Jahren auch heiratete. Kinder? Irgendwie lieber nicht, und wenn, dann wollten wir nur welche adoptieren, keine eigenen. Aber irgendwie passte der Zeitpunkt nie. Wir bekamen beide nach dem Studium erst einmal keine Jobs. Hatten zwar beide einen Studienabschluss in der Tasche, aber Anstellungen waren Mangelware und die Konkurrenz war groß. -> Babyboomer Generation. Mehr aus einer Laune heraus heirateten wir nach 18 Jahren, wirklich bedeutend schien es uns aber nicht. In unserer Generation bedeutete Freiheit auch, sich über althergebrachtes hinwegzusetzen und Konventionen bewusst zu ignorieren. Auch sexuelle Freizügigkeit war in unserer Generation etwas, dass es auszuprobieren galt.
Mit Anfang 40 verliebte ich mich in eine Frau, 14 Jahre jünger als ich. Für sie gab ich meine Ehe auf. Es war keine leichte Entscheidung aber die Umstände und mein Drang neue Wege zu gehen, ließen mich dieses Wagnis eingehen. Finanziell war ich durch meinen Beruf unabhängig. Das Experiment scheiterte nach 6 Jahren. SIE war jetzt auch beruflich und finanziell unabhängig und brauchte mich nicht mehr, um aus ihrem konservativen Umfeld herauszukommen: das hatte sie mit meiner Hilfe erreicht. Es war eine spannende und sehr intensive Zeit mit einigen räumlichen Umzügen quer durch die Republik. Verwurzelt war ich sowieso nirgendswo.
So ergab es sich, dass ich mit knapp 50 Jahren in Wiesbaden wohnte, wieder Single war und einen gutbezahlten Vollzeitjob hatte. Da dieser auch viel mit Kongressreisen verbunden war, wurde mir nicht langweilig, zumal ich mir in Wiesbaden erst einmal ein soziales Umfeld schaffen musste, da ich noch kaum jemanden kannte. Also alles wieder auf Null und neu anfangen.
Mein Umfeld hatte mich die Jahre über oft für meinen Mut, unkonventionelle Entscheidungen zu treffen, bewundert. Meine Antwort lautete darauf: dass das jeder könne, soweit er oder sie bereit sei, auch entsprechende Konsequenzen daraus in Kauf zu nehmen. Ich jedenfalls musste damit umgehen, mit 50 wieder völlig allein dazustehen. Meine alten Freunde waren über ganz Deutschland verstreut und mein Wohnort irgendwie eher zufällig. Ich wollte mich damals nicht recht damit abfinden, den Rest meines Lebens allein zu verbringen und begab mich ins Internet auf Partnersuche. Mehre Jahre lang. Es war teilweise spannend, aber eine längerfristige Beziehung entstand nie. Sexuellen Notstand gab es ebenso wenig.
Auf einer meiner Reisen lernte ich dann Michael kennen. 10 Jahre waren wir zusammen, dann brach das Vertrauen und nach 5 Jahren Eheleben war auch diese Beziehung Geschichte.
Wie erreicht man gleichberechtigten Konsens?
Mittlerweile 63 fragte ich mich natürlich, woran meine langjährigen Beziehungen jeweils gescheitert sind. Ich war aus meiner Sicht immer bereit gewesen, Kompromisse einzugehen, mich finanziell einzubringen, für meinen PartnerIn da zu sein. Nur eines ist mir auch klar geworden: Ich war in all den Jahren nicht eine Sekunde bereit, meine finanzielle Unabhängigkeit, die eng mit der Ausübung meines Berufes verbunden ist, aufzugeben. Ob mir das als Egoismus vorgeworfen wurde, weiß ich nicht. Aber es hatte sicher einen Einfluss.
Mittlerweile ist auch meine letzte Verwandte, meine Mutter verstorben und ich bin die letzte unserer Familie. Ich lebe glücklich allein und versuche mir zum ersten Mal in meinem Leben, ein soziales Umfeld in unmittelbarer Nähe, um mich herum in Hanstedt aufzubauen. Ich werde hier auch ehrenamtlich aktiv und versuche meine alten Freundschaften in ganz Deutschland weiter zu pflegen solange und so gut es sich machen lässt.
Mein Leben bis hierher war aufregend, vielfältig, von wunderbaren Erfahrungen erfüllt und arbeitsreich. Enttäuschungen gehörten dazu ebenso wie schöne glückliche Phasen. Ich habe mich nie in irgendwelche finanziellen Abhängigkeiten von Partnern, Banken oder anderen Projekten begeben. Emanzipiert eben, ohne darüber großartig nachgedacht zu haben. Ich denke, damit war ich in meiner Generation absolut kein Einzelfall, was ich bei vielen meiner Freundinnen bestätigt. Ich denke, wir sind die erste Generation Frauen, die selbstbestimmt und aus eigener Entscheidung allein leben konnten und in vielen Fällen eben auch wollen. Für Männer dieser Generation war und ist wohl deswegen auch ganz schön schwierig, mit Frauen wie uns auszukommen: Gleichberechtigung heisst eben auch, nicht einer bestimmt und der andere macht mit. Es bedeutet, immer wieder das Suchen nach gemeinsamen Konsens. Das ist anstrengend und gelingt eben auch nicht immer.
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